Die erste Predigt,
die ich -
abgesehen von denen
meines Lehrers -
seit 1972
gehört habe!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Familie NietanDu solltest aber fröhlich
und guten Mutes sein;
denn dieser
dein Bruder war tot
und ist wieder
lebendig geworden;
er war verloren
und ist wiedergefunden.
Lukas 15,32



 

 

Liebe Gemeinde!

»Mit anderen Augen gesehen« heißt eine Reihe von Sondergottesdiensten, in der Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens die Gelegenheit gegeben werden soll, einen biblischen Text zum Thema »soziale Gerechtigkeit« auszulegen.

Wer nun eine Bibelauslegung »mit den anderen Augen« eines Sozialdemokraten erwartet, oder vielleicht sogar eine flammende Rede, die jedem von Ihnen ein wenig mehr soziales Handeln nahebringen will, den wird meine Gastpredigt »bitter« enttäuschen.

Abertausende von Muslimen, Juden, Buddhisten reden nicht nur von sozialer Gerechtigkeit, sondern setzen sich auch für sie ein. Und niemand käme auf die aberwitzige Idee, zu behaupten, nur Christen würden sich für soziale Gerechtigkeit einsetzen.

Wir aber haben uns heute hier versammelt - als Kirche, also als Versammlung der Gläubigen, in welcher das Evangelium, das Wort Gottes, gesagt wird.

Und genau dies unterscheidet diese Zusammenkunft von jeder anderen zum Thema soziale Gerechtigkeit, gleichgültig ob sie nun in einem Gewerkschaftshaus, einem Hörsaal, einer Moschee oder einer Synagoge stattfinden würde.

Meine persönliche Auslegung eines Bibeltextes unter dem Gesichtspunkt der sozialen Gerechtigkeit wäre hier und heute wahrlich reine Zeitverschwendung! - Erlauben Sie mir an dieser Stelle, Peter Baier zu zitieren (stammt aus dieser Gemeinde, Anm. d. Red.), der einmal gesagt hat: »Die Versammlung der Gläubigen versammelt sich nicht, damit ein selbstfabrizierter Zweck erreicht werde, sondern sie ,kommt zusammen‘, und es kann sich folglich nichts anderes ereignen als Lehre des Evangeliums.«

Ich werde mich bemühen, genau in diesem Sinn, als irrtumsfähiger und schuldiger Mensch das Evangelium, also das Wort Gottes, zu wiederholen. Was kann es schließlich für einen bekennenden Christen schöneres geben, als diese frohe Botschaft - so wie heute - anderen weiterzusagen?

Die heutige Predigt bezieht sich auf das Gleichnis vom verlorenen Sohn, welches wir beim Evangelisten Lukas in Kapitel 15, in den Versen 11 bis 32, nachlesen können. -Die Handlung ist schnell erzählt:

Ein Vater hat zwei Söhne. Der Jüngere verlangt sein Erbteil und zieht damit in ein anderes Land davon. Dort verpraßt er alles und landet, wie wir heute sagen würden, in der Gosse. Am Ende hütet er die Säue, die mehr zu fressen haben, als er selbst zu essen hat.

Ganz unten angelangt geht er in sich und sagt zu sich: Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: »Vater ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor Dir.« (Lk 15,18)

Und so macht er sich auf und geht tatsächlich zu seinem Vater und sagt: »Vater ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor Dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, daß ich Dein Sohn heiße.« (Lk 15,21)

Der Vater aber läßt den Sohn in die kostbarsten Kleider hüllen und tischt ihm besten Speisen auf und sagt: »Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden« (Luk 15,24).

Welch ein Vater ist das, der nicht fragt; »Was hast Du getan?«, der es sich verkneift zu sagen: »So etwas darfst Du aber nie wieder tun!«, der sich jede Schelte und Belehrung spart und einfach bedingungslos verzeiht?

Dass Eltern ihren Kindern verzeihen, können wir erwarten. Aber dieser Vater verzichtet nicht nur auf die obligatorische Gardinen»predigt«, er knüpft an sein Verzeihen keinerlei Bedingung.

Das ist das Wort Gottes, das mit seinem Sohn Jesus Christus zu uns auf die Welt gekommen ist: Wir alle, alle verlorenen Töchter und Söhne, also ausnahmslos alle Menschen, sind von Anfang an bedingungslos aufgenommen in die Liebe vom Vater zu seinem Sohn Jesus Christus.

Gott richtet nicht, er straft nicht, er liebt uns bedingungslos. Wir müssen uns diese Liebe nicht verdienen, sie ist uns ohne jede Vorbedingung geschenkt. Warum sonst hat es die Menschwerdung unseres Herrn Jesus Christus gegeben? Damit er uns ein paar weitere fromme Sprüche zur Schrift Israels dazugibt? Damit er uns das Gleiche erzählt, wie andere Religionsstifter, ganz nach dem Motto: »Wenn Ihr Euch bemüht, gut zu sein, wird Euch der liebe Gott schon gnädig in den Himmel aufnehmen.«

Nein, dieses allzu »menschliche« Denken ist alles mögliche, nur nicht die Botschaft, derentwegen Jesus Christus sein Martyrium auf Erden auf sich nahm.

Als einziger Religionsstifter spricht Jesus Christus von seinem Vater, von der Liebe des Vaters zum Sohn, in die alle Menschen aufgenommen sind.

Wir können das Evangelium rauf und runter lesen, am Ende stoßen wir immer wieder auf diese einzige ausschließlich glaubbare frohe Botschaft: Wir sind von Anfang an bedingungslos geliebt. Wer diese Botschaft gehört hat, kann sich diese Liebe immer wieder neu gefallen lassen - glauben.

»Vom bamherzigen Vater« wäre demnach die treffendere Überschrift für unser heutiges Gleichnis. Barmherzig im ureigensten Sinn des Wortes meint: sein gegebenes Versprechen halten, zu seinem Wort stehen. Und genau darum geht es:

Auf Gott können wir uns verlassen. Er hält Wort. Durch seinen Sohn selbst hat er sein Wort von der bedingungslosen Liebe seinen verlorenen Töchtern und Söhnen mitgeteilt.

Und die haben es selbst in der Hand, sich auf dieses Wort einzulassen. So, wie der verlorene Sohn im Lukas-Evangelium.

Sich auf Gott einlassen, das hört sich ja schön fromm an, aber was ist damit gemeint?! Nicht der brave rechtschaffene Sohn, sondern der verlorene Sohn weist uns hierzu den Weg.

Er steht zu dem, was er tut. Er ist sich seiner Schuld bewußt. Keine Ausreden, keine vermeintlichen widrigen Umstände werden als Entschuldigung gesucht. Er gibt zuerst vor sich selbst und dann auch vor seinem Vater zu: »...ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir...«

Einen besseren Christen kann ich mir gar nicht vorstellen.

Christen können jederzeit zu ihrem Tun stehen. Sie können sich jederzeit eingestehen, schwache, endliche Geschöpfe zu sein. Sie werden aber daran weder verzweifeln, noch müssen sie zu gleichgültigen Zynikern werden, denn sie haben ja das Wort Gottes gehört, von Anfang an ohne jegliche Bedingung in Gottes grenzenlose Liebe aufgenommen zu sein.

Diese Botschaft ist so revolutionär, daß dagegen die Lehren von Marx, Engels und Lenin geradezu Schlafmittel sind!

Denn wer gehört hat, jederzeit ein bedingungslos geliebtes Kind Gottes zu sein, wer sich auf diese Liebe einlassen und verlassen kann, weil nichts, aber auch gar nichts auf dieser Welt, uns aus dieser Liebe herausreißen kann, der ist ein freier Mensch!

Diese Botschaft, das Wort Gottes, entmachtet letztlich alle Angst des Menschen um sich selbst. Damit es keine Mißverständnisse gibt: Das Wort Gottes nimmt niemandem die Angst vor Versagen, vor dem Ausgeschlossen-Sein, vor Krankheit und Tod. Aber die Angst hat nicht mehr das letzte Wort!

Denn wer sich so bedingungslos geliebt »weiß«, muß nicht mehr aus der Angst um sich selbst heraus handeln. Er kann sie überwinden. Vielleicht nicht oft, aber vielleicht immer öfter!

So können wir jeden Tag neu beginnen, das Notwendige zu tun. Also im wahrsten Sinne des Wortes unser Handeln danach auszurichten, Not abzuwenden von unserem Nächsten.

Wir können also jeden Tag aufs neue gegen das Unrecht sozialer Ungerechtigkeit angehen.

Das ist kein leichtes Unterfangen, denn wir werden es mit denen zu tun bekommen, die von diesem Unrecht profitieren. Sie werden uns alle unter Druck setzen. Sie werden uns Angst machen, z. B. mit der Drohung, Arbeitsplätze abzubauen. Und sie werden denjenigen, die ihre Macht, ihre Privilegien in Unternehmen, Verwaltungen oder politischen Ämtern gefährden, Angst machen.

Denn die Angst, das zu verlieren, an dem man besonders hängt, ist der beste Zuchtmeister.

Ganz subtil heißt es dann: »Denk an Deine Karriere!« oder: »Denk an Deine Familie!« »Sie wollen doch noch einmal wiedergewählt werden, Herr Nietan?!« »Sie wollen doch noch irgendwann einmal befördert werden, Herr Soundso?!«

Wie oft hat jeder von uns schon erlebt, daß er mit diesen Drohungen konfrontiert wurde. Wie oft habe z.B. ich mich dabei ertappt, aus Angst um mich selbst vermeindlichen Sachzwängen nachzugeben! Das nenne ich Unfreiheit!

Das ist die Knechtschaft, in die man gerät, wenn die Angst um sich selbst das letzte Wort behält.

Moralische Appelle allein reichen nicht aus, um uns letztlich aus dieser Knechtschaft zu befreien. Dazu braucht es schon einer Gewißheit, die stärker ist, als unsere Angst um uns selbst.

Diese Gewißheit ist der Glaube an Gott. Und zwar nicht der Glaube, daß es einen Gott gibt. Das gibt es in allen Religionen. Nein, den Glauben im christlichen Sinn: sich von Gott jederzeit bedingungslos über alles irdische Maß hinaus geliebt zu »wissen«.

Wer das glaubt, muß nicht mehr aus der Angst um sich leben. - Er ist nicht mehr erpreßbar, von denen, die vermeintlich oder auch wirklich die Macht haben, ihm das zu nehmen, woran er auf Erden hängt.

Im Hebräerbrief heißt es Kapitel 2, Vers 15, der Sohn Gottes habe am Menschenschicksal teilgenommen, damit er durch seinen Tod »die erlöste, die durch Furcht vor dem Tod im ganzen Leben Knechte sein mußten.«

Der Glaube an diese frohe Botschaft gibt Christen die Kraft, jeden Tag aufs neue zu versuchen, das Notwendige zu tun.

Dabei werden wir uns oft genug dabei ertappen, das Notwendige nicht getan zu haben. Das ist allzu »menschlich«.

Aber wir brauchen deshalb nicht in Sack und Asche schuldbewußt herumzulaufen. Vielmehr können wir auch zu unseren Fehlern stehen. Denn wir bleiben alle Zeit unauslöslich hineingenommen in die unendliche Liebe des Vaters zum Sohn.

Versuchen wir also immer wieder neu, das Notwendige zu tun.

Alles Weitere findet sich.
Amen


Am 17. Januar 1999 wurde diese Predigt in der evangelischen Christus-Kirche in Düren zum Auftakt der Predigt-Reihe »Mit anderen Augen gesehen« gehalten.- Entscheidungsträger aus Wirtschaft und Politik halten Gastpredigten zum Thema »Soziale Gesellschaft«.

Die Veröffentlichung der Predigt in dieser Homepage erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors:
Dietmar Nietan, 34, MdB (SPD)
Mitglied des »Gebetsfrühstückskreis im Deutschen Bundestag«

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