Du solltest
aber fröhlich
Liebe Gemeinde! »Mit anderen Augen gesehen« heißt eine Reihe
von Sondergottesdiensten, in der Persönlichkeiten des öffentlichen
Lebens die Gelegenheit gegeben werden soll, einen biblischen
Text zum Thema »soziale Gerechtigkeit« auszulegen. Wer nun eine Bibelauslegung »mit den anderen Augen«
eines Sozialdemokraten erwartet, oder vielleicht sogar eine flammende
Rede, die jedem von Ihnen ein wenig mehr soziales Handeln nahebringen
will, den wird meine Gastpredigt »bitter« enttäuschen. Abertausende von Muslimen, Juden, Buddhisten reden nicht nur
von sozialer Gerechtigkeit, sondern setzen sich auch für
sie ein. Und niemand käme auf die aberwitzige Idee, zu behaupten,
nur Christen würden sich für soziale Gerechtigkeit
einsetzen. Wir aber haben uns heute hier versammelt - als Kirche, also
als Versammlung der Gläubigen, in welcher das Evangelium,
das Wort Gottes, gesagt wird. Und genau dies unterscheidet diese Zusammenkunft von jeder
anderen zum Thema soziale Gerechtigkeit, gleichgültig ob
sie nun in einem Gewerkschaftshaus, einem Hörsaal, einer
Moschee oder einer Synagoge stattfinden würde. Meine persönliche Auslegung eines Bibeltextes unter dem
Gesichtspunkt der sozialen Gerechtigkeit wäre hier und heute
wahrlich reine Zeitverschwendung! - Erlauben Sie mir an dieser
Stelle, Peter Baier zu zitieren (stammt aus dieser Gemeinde,
Anm. d. Red.), der einmal gesagt hat: »Die Versammlung
der Gläubigen versammelt sich nicht, damit ein selbstfabrizierter
Zweck erreicht werde, sondern sie ,kommt zusammen, und
es kann sich folglich nichts anderes ereignen als Lehre des Evangeliums.« Ich werde mich bemühen, genau in diesem Sinn, als irrtumsfähiger
und schuldiger Mensch das Evangelium, also das Wort Gottes, zu
wiederholen. Was kann es schließlich für einen bekennenden
Christen schöneres geben, als diese frohe Botschaft - so
wie heute - anderen weiterzusagen? Die heutige Predigt bezieht sich auf das Gleichnis vom verlorenen
Sohn, welches wir beim Evangelisten Lukas in Kapitel 15, in den
Versen 11 bis 32, nachlesen können. -Die Handlung ist schnell
erzählt: Ein Vater hat zwei Söhne. Der Jüngere verlangt sein
Erbteil und zieht damit in ein anderes Land davon. Dort verpraßt
er alles und landet, wie wir heute sagen würden, in der
Gosse. Am Ende hütet er die Säue, die mehr zu fressen
haben, als er selbst zu essen hat. Ganz unten angelangt geht er in sich und sagt zu sich: Ich
will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen:
»Vater ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor
Dir.« (Lk 15,18) Und so macht er sich auf und geht tatsächlich zu seinem
Vater und sagt: »Vater ich habe gesündigt gegen den
Himmel und vor Dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, daß
ich Dein Sohn heiße.« (Lk 15,21) Der Vater aber läßt den Sohn in die kostbarsten
Kleider hüllen und tischt ihm besten Speisen auf und sagt:
»Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig
geworden; er war verloren und ist gefunden worden« (Luk
15,24). Welch ein Vater ist das, der nicht fragt; »Was hast
Du getan?«, der es sich verkneift zu sagen: »So etwas
darfst Du aber nie wieder tun!«, der sich jede Schelte
und Belehrung spart und einfach bedingungslos verzeiht? Dass Eltern ihren Kindern verzeihen, können wir erwarten.
Aber dieser Vater verzichtet nicht nur auf die obligatorische
Gardinen»predigt«, er knüpft an sein Verzeihen
keinerlei Bedingung. Das ist das Wort Gottes, das mit seinem Sohn Jesus Christus
zu uns auf die Welt gekommen ist: Wir alle, alle verlorenen Töchter
und Söhne, also ausnahmslos alle Menschen, sind von Anfang
an bedingungslos aufgenommen in die Liebe vom Vater zu seinem
Sohn Jesus Christus. Gott richtet nicht, er straft nicht, er liebt uns bedingungslos.
Wir müssen uns diese Liebe nicht verdienen, sie ist uns
ohne jede Vorbedingung geschenkt. Warum sonst hat es die Menschwerdung
unseres Herrn Jesus Christus gegeben? Damit er uns ein paar weitere
fromme Sprüche zur Schrift Israels dazugibt? Damit er uns
das Gleiche erzählt, wie andere Religionsstifter, ganz nach
dem Motto: »Wenn Ihr Euch bemüht, gut zu sein, wird
Euch der liebe Gott schon gnädig in den Himmel aufnehmen.« Nein, dieses allzu »menschliche« Denken ist alles
mögliche, nur nicht die Botschaft, derentwegen Jesus Christus
sein Martyrium auf Erden auf sich nahm. Als einziger Religionsstifter spricht Jesus Christus von seinem
Vater, von der Liebe des Vaters zum Sohn, in die alle Menschen
aufgenommen sind. Wir können das Evangelium rauf und runter lesen, am Ende
stoßen wir immer wieder auf diese einzige ausschließlich
glaubbare frohe Botschaft: Wir sind von Anfang an bedingungslos
geliebt. Wer diese Botschaft gehört hat, kann sich diese
Liebe immer wieder neu gefallen lassen - glauben. »Vom bamherzigen Vater« wäre demnach die
treffendere Überschrift für unser heutiges Gleichnis.
Barmherzig im ureigensten Sinn des Wortes meint: sein gegebenes
Versprechen halten, zu seinem Wort stehen. Und genau darum geht
es: Auf Gott können wir uns verlassen. Er hält Wort.
Durch seinen Sohn selbst hat er sein Wort von der bedingungslosen
Liebe seinen verlorenen Töchtern und Söhnen mitgeteilt. Und die haben es selbst in der Hand, sich auf dieses Wort
einzulassen. So, wie der verlorene Sohn im Lukas-Evangelium. Sich auf Gott einlassen, das hört sich ja schön
fromm an, aber was ist damit gemeint?! Nicht der brave rechtschaffene
Sohn, sondern der verlorene Sohn weist uns hierzu den Weg. Er steht zu dem, was er tut. Er ist sich seiner Schuld bewußt.
Keine Ausreden, keine vermeintlichen widrigen Umstände werden
als Entschuldigung gesucht. Er gibt zuerst vor sich selbst und
dann auch vor seinem Vater zu: »...ich habe gesündigt
gegen den Himmel und vor dir...« Einen besseren Christen kann ich mir gar nicht vorstellen. Christen können jederzeit zu ihrem Tun stehen. Sie können
sich jederzeit eingestehen, schwache, endliche Geschöpfe
zu sein. Sie werden aber daran weder verzweifeln, noch müssen
sie zu gleichgültigen Zynikern werden, denn sie haben ja
das Wort Gottes gehört, von Anfang an ohne jegliche Bedingung
in Gottes grenzenlose Liebe aufgenommen zu sein. Diese Botschaft ist so revolutionär, daß dagegen
die Lehren von Marx, Engels und Lenin geradezu Schlafmittel sind! Denn wer gehört hat, jederzeit ein bedingungslos geliebtes
Kind Gottes zu sein, wer sich auf diese Liebe einlassen und verlassen
kann, weil nichts, aber auch gar nichts auf dieser Welt, uns
aus dieser Liebe herausreißen kann, der ist ein freier
Mensch! Diese Botschaft, das Wort Gottes, entmachtet letztlich alle
Angst des Menschen um sich selbst. Damit es keine Mißverständnisse
gibt: Das Wort Gottes nimmt niemandem die Angst vor Versagen,
vor dem Ausgeschlossen-Sein, vor Krankheit und Tod. Aber die
Angst hat nicht mehr das letzte Wort! Denn wer sich so bedingungslos geliebt »weiß«,
muß nicht mehr aus der Angst um sich selbst heraus handeln.
Er kann sie überwinden. Vielleicht nicht oft, aber vielleicht
immer öfter! So können wir jeden Tag neu beginnen, das Notwendige
zu tun. Also im wahrsten Sinne des Wortes unser Handeln danach
auszurichten, Not abzuwenden von unserem Nächsten. Wir können also jeden Tag aufs neue gegen das Unrecht sozialer Ungerechtigkeit angehen. Das ist kein leichtes Unterfangen, denn wir werden es mit
denen zu tun bekommen, die von diesem Unrecht profitieren. Sie
werden uns alle unter Druck setzen. Sie werden uns Angst machen,
z. B. mit der Drohung, Arbeitsplätze abzubauen. Und sie
werden denjenigen, die ihre Macht, ihre Privilegien in Unternehmen,
Verwaltungen oder politischen Ämtern gefährden, Angst
machen. Denn die Angst, das zu verlieren, an dem man besonders hängt,
ist der beste Zuchtmeister. Ganz subtil heißt es dann: »Denk an Deine Karriere!«
oder: »Denk an Deine Familie!« »Sie wollen
doch noch einmal wiedergewählt werden, Herr Nietan?!«
»Sie wollen doch noch irgendwann einmal befördert
werden, Herr Soundso?!« Wie oft hat jeder von uns schon erlebt, daß er mit diesen
Drohungen konfrontiert wurde. Wie oft habe z.B. ich mich dabei
ertappt, aus Angst um mich selbst vermeindlichen Sachzwängen
nachzugeben! Das nenne ich Unfreiheit! Das ist die Knechtschaft, in die man gerät, wenn die
Angst um sich selbst das letzte Wort behält. Moralische Appelle allein reichen nicht aus, um uns letztlich
aus dieser Knechtschaft zu befreien. Dazu braucht es schon einer
Gewißheit, die stärker ist, als unsere Angst um uns
selbst. Diese Gewißheit ist der Glaube an Gott. Und zwar nicht
der Glaube, daß es einen Gott gibt. Das gibt es in allen
Religionen. Nein, den Glauben im christlichen Sinn: sich von
Gott jederzeit bedingungslos über alles irdische Maß
hinaus geliebt zu »wissen«. Wer das glaubt, muß nicht mehr aus der Angst um sich
leben. - Er ist nicht mehr erpreßbar, von denen, die vermeintlich
oder auch wirklich die Macht haben, ihm das zu nehmen, woran
er auf Erden hängt. Im Hebräerbrief heißt es Kapitel 2, Vers 15, der
Sohn Gottes habe am Menschenschicksal teilgenommen, damit er
durch seinen Tod »die erlöste, die durch Furcht vor
dem Tod im ganzen Leben Knechte sein mußten.« Der Glaube an diese frohe Botschaft gibt Christen die Kraft,
jeden Tag aufs neue zu versuchen, das Notwendige zu tun. Dabei werden wir uns oft genug dabei ertappen, das Notwendige
nicht getan zu haben. Das ist allzu »menschlich«. Aber wir brauchen deshalb nicht in Sack und Asche schuldbewußt
herumzulaufen. Vielmehr können wir auch zu unseren Fehlern
stehen. Denn wir bleiben alle Zeit unauslöslich hineingenommen
in die unendliche Liebe des Vaters zum Sohn. Versuchen wir also immer wieder neu, das Notwendige zu tun. Alles Weitere findet sich. Am 17. Januar 1999 wurde diese Predigt in der evangelischen
Christus-Kirche in Düren zum Auftakt der Predigt-Reihe »Mit
anderen Augen gesehen« gehalten.- Entscheidungsträger
aus Wirtschaft und Politik halten Gastpredigten zum Thema »Soziale
Gesellschaft«. Manuskript! Der Text ist das Manuskript; es gilt das gesprochene
Wort. |