Ziehende Zivis

 

»Wenn ihr in mir bleibt und (d. h. wenn) meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren.« Joh 15,7

Immer wieder ein kleines Stückchen und sehr langsam zog der eine der beiden Zivildienstleistenden an den schwarzen Fäden, die beide zuvor behutsam um die Zwiebeln der Tulpen gebunden hatten. Für Außenstehende nicht erkennbar hatten sie die Tulpen äußerst locker ins Erdreich gesetzt. Der andere Zivi filmte mit der Videokamera bei Einzelbildschaltung, wie sich die Tulpen zielstrebig aus dem Erdreich hoben, sich auf das benachbarte Mäuerchen legten und sich in der Sonne zu Tode brachten und verwelkten.

Am Abend dann im Jugendgottesdienst staunten viele Kinder und Jugendliche, die das Spiel durchschauten, über die Tulpen, die freiwillig starben. Sie machten sich Gedanken über das Verhalten der manipulierten Zwiebeln und uns Menschen, die wir uns unter derselben Sonne vergleichbar verhalten, ohne dazu gezwungen zu sein.

Der Dynamik solch schwarzer Fäden, der Dynamik der Sünde, überlassen wir uns immer wieder. Wir haben das Wort Gottes gehört, vor nichts und niemandem zurückweichen und Angst haben zu müssen. Der Vater ist uns immer mit derselben Liebe zugewandt, mit der er seit Ewigkeit seinen Sohn liebt. So behalten wir unsere Angst, brauchen uns aber nie danach zu richten; im Evangelium hören wir gerade, dass sie ein für allemal überwunden ist. Doch Christus, das Evangelium, scheint uns in unserer Verblendung oft nicht der rechte Boden, uns darin der Sonne des Lebens zu freuen. Als könnten wir überhaupt leben in anderem Erdreich!

Wir wollen dann nicht in ihm bleiben, wir tun zumindest so, als wollten wir heraus, als könnten wir heraus. Bewusst oder unbewußt entscheiden wir uns im Alltag alle paar Minuten, uns der Versuchung zur Sünde mit ihrer Eigendynamik zu überlassen oder zu handeln.

Mit »Handeln« ist positives Handeln gemeint. In unserer Sprache ist es üblich, den gemeinten Begriff positiv zu verstehen, wenn das Adjektiv fehlt. Unter »Fensterscheibe« stellt sich keiner eine zerbrochene vor. Ist eine zerbrochene Scheibe gemeint, darf das Adjektiv »zerbrochen« nicht fehlen, es muß ausdrücklich dazugesagt werden. Äpfel sind zum Essen oder Verfüttern, verdorbene Äpfel bedürfen dieser zusätzlichen Bezeichnung. - Zeit steht zur Verfügung, sonst handelt es sich um verstrichene Zeit. - »Handeln« ist also positives Handeln, aufs ganze und auf Dauer gesehen also produktiv. Sünde dagegen ist in all ihrer jeweils mitgegebenen sozialen Dimension kontraproduktiv, d. h. aufs ganze und auf Dauer gesehen für jedermann schlecht: Handeln ist so das Gegenteil von Sünde.

Der Gelassenheit aus dem Evangelium, dem Wort Gottes grenzenloser Güte, entspringt die Freude am Augenblick, unser bedachtsames Handeln daraus, unser Trachten nach dem, was aufs ganze und auf Dauer nicht kontraproduktiv ist wie die Sünde, sondern produktiv für andere und damit für uns.

Sobald wir nicht mehr »in ihm sind« (vgl. 2 Kor 5,17), sobald wir uns dem ersten Zipfel der Eigendynamik der Sünde überlassen haben, sind wir Meister der Tarnung und Selbsttäuschung. Von »Einmal ist keinmal!« bis »Es hat ja doch alles keinen Zweck!« reichen dann unsere Entschuldigungen, mit denen wir uns einnebeln, die Sonne nicht mehr sehen wollen, mehr und mehr uns aus dem Stand des Friedens und des unüberbietbaren Trostes davonzuschleichen beginnen.

Als ob für uns außerhalb der grenzenlosen Liebe des Vaters zum Sohn, als ob für uns außerhalb des Heiligen Geistes, in dem wir unüberbietbar geborgen sind, innerer Friede zu finden sein könnte oder Zufriedenheit ...

»In ihm geblieben« dagegen läßt sich die Gemeinschaft mit Gott bewusst leben. Das geht in guten, in schlechten, wie in schlechtgemachten Tagen. Lange bevor Gottes Gegenwart auch in der Sünde entdeckt werden kann, in der Schuld mit all ihren Folgen, der Isolation, Verarmung und Dürre, die schließlich nichts ausrichten, ist es im Handeln zu entdecken.

Jesus hat sich für seine Predigt dem Kreuz als der unbegründeten Ablehnung ausgesetzt. Er hat sich durch diese Willkür kreuzigen, und das heißt »zur Sünde machen« lassen. Das Wort »Kreuz« will theologisch verstanden werden - auch in unserem Leben, im Alltag - als die Willkür der unbegründeten Ablehnung der Predigt Gottes unendlicher Liebe. Gottes Wort, Christus, hat sich für uns ein für allemal zur Sünde machen lassen (vgl. 2 Kor 5,21). Damit ist gemeint, dass ihn Heilsbedürftige grundlos der Möglichkeit, das Heil zu predigen, beraubt haben. Er ist »der Sünde gestorben ein für allemal« (Röm 6,10) - für uns. Diese Sünder sind auch wir heute.

Alle Menschen sind des Sohnes wegen in die Liebe des Vaters zum Sohn hinein geschaffen, in den Heiligen Geist. Sie sind Geschöpfe »in Christus« (vgl. 2 Kor 5,17).

Wenn Ihr in mir bleibt, werdet Ihr im Glauben das Heil erfahren. Wenn Ihr dem Anspruch, unter dem Euch Eure Umwelt begegnet, zu entsprechen trachtet, also glaubt, wenn Ihr Euch nach Eurem Gewissen richtet, also glaubt, wird Euch das Heil, in dem Ihr lebt, erfahrbar begegnen. Wenn es erst anonym geschieht, habt Ihr keinen Mangel daraus: Der Glaube kommt vom Hören (Röm 10,17), und wenn Euch niemand den Heiligen Geist als den tragenden Grund Eures Handelns eröffnet hat, ist das nicht Eure Schuld.

Wenn Ihr in mir bleibt und auch die Worte in Euch bleiben, die Euch das eröffnen, wenn Ihr in mir bleibt und meine Worte in Euch bleiben, wenn Ihr also vom Wort Gottes her Eurem Gewissen zu folgen trachtet, werdet Ihr im Glauben das Heil erfahren, in dem Ihr bereits lebt und das Ihr im Gegensatz zu den noch anonym Glaubenden bereits bewusst lebt.

Ihr seid dann durchdrungen von meiner Botschaft, um meinetwillen von meinem und Eurem Vater in jeder Situation gehalten zu sein. Ihr erfahrt im Alltag konkret Eure Bitte um das Himmelreich [bei Euch] als erfüllt, eine Erfahrung, die den anderen noch abgeht, obwohl auch sie im Himmelreich leben.

Das Himmelreich, die bedingungslos geschenkte Gemeinschaft mit Gott, ist unüberbietbar und erster Gegenstand des Gebets, und das ist selbstverständlich erhört. Alles andere, worum Ihr den Vater bittet, versteht Ihr als Bestellung des Feldes, durch das Ihr Euren Schwestern und Brüdern vorausgesandt seid. In ihm geht es darum, den Nachfolgenden und dem Vater den Weg, dem Vater sein Volk zu bereiten (vgl. Gen 45,7; Gal 4,4-5).

Ein Christ lebt bewusst, verantwortungsvoll und Rechenschaft gebend im Stand des Trostes und des Friedens. (Auch ein Glaubender, der an Depressionen leidet und dadurch eingeschränkt bewusst, verantwortungsvoll und Rechenschaft gebend lebt, »weiß« sich auch in seiner Krankheit von Gott gehalten; auch ihn möchte ich als einen bezeichnen, der im Stand des Trostes und des Friedens lebt.) Er sieht sich [darin] mit Gott eins. Die Gemeinschaft mit Gott bewahrt ihn davor, die Welt zu vergöttern, sie mit Gott zu verwechseln. Auch in Zeiten der Not und angesichts der Problematik der Welt wird er keinen Grund finden, [auch darin] mit Gott eins, an der Welt zu verzweifeln. Ganz im Gegenteil, sie ist dem Christen Ansporn: Der Glaube, der nur vom Hören kommt (Röm 10,17), bedarf der Hörbereitschaft. Die Verkündigung des Reiches Gottes und die Erhaltung der Welt in der Hörbereitschaft gehören untrennbar zusammen. Der Christ sieht seine Aufgabe darin, diese Hörbereitschaft für das Wort Gottes durch sein Leben zu erhalten oder zu wecken, um so den Boden zu bereiten für die Verkündigung des Himmelreiches.

Die Sorge um Güte - mehr als Gerechtigkeit, die Sorge um Gottes Gerechtigkeit also - ist das Gebet des Christen: »Die Liebe Christi drängt uns« (2 Kor 5,14). - Ob ich anonym glaube oder ob ich mich bewusst dem Evangelium entsprechend nach meinem Gewissen richte, »nicht ich lebe, sondern Christus lebt in mir« (Gal 2,20).