Irgendeine Palme
hat jeder
in der Hand
Palmsonntag ist täglich
Die vier Evangelisten haben in ihren Passionsgeschichten
auf verschiedene Traditionen vom Leiden und Sterben Jesu zurückgegriffen.
Bei Mk und Mt findet sich so je ein Wort, das Jesus am Kreuz gesagt haben
soll, bei Lk sind es drei Worte, die ich aus der heute zu verlesenden
Passion für uns auswählte, und beim Evangelisten Johannes sind
es auch drei Worte, von denen man bei flüchtiger Lektüre annehmen
könnte, Jesus habe sie gesagt.
Einen Stamm hatte der Verurteilte zu schleppen, er wurde auf den schon
senkrecht stehenden gelegt, nachdem der Hinzurichtende daran festgenagelt
war. - Daß Jesus noch gesprochen hat, erscheint unwahrscheinlich;
mit dem Hängen beginnt das Ersticken. Die Autoren legten Jesus je
eine Predigt in den Mund - oder drei:
1 Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht,
was sie tun!
2 Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit
mir im Paradies sein.
3 Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!
1 Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht,
was sie tun! - Zwölf lange Monate habe ich versucht, Deinen
einzigen Willen zu erfüllen, Vater! Ich habe gepredigt, war es gelegen
oder ungelegen (vgl. 2 Tim 4,2a). Aber in zweitausend Jahren
werden sie es in ihrer Mehrheit noch nicht verstanden haben, was ich sagte.
Sie werden dann immer noch fragen, warum Du meinen Tod gewollt hättest.
Du willst nicht, daß ich hier so sterbe wie ein Verbrecher, Du
willst, daß ich predige und so Dir treu bleibe - auch vor Pilatus.
Treu auch jetzt in dieser letzten Stunde. Die Leute meinen, es sei meine
letzte und sie nähmen mir das Leben. Nichts haben sie verstanden. -
Immer wieder habe ich ihnen gesagt, daß das Maß Deiner Liebe zu ihnen unbegrenzt sei, daß sie
von ihrem Anfang an in der unbegrenzten Liebe des Vaters zum Sohn leben,
daß sie Dir nicht als dem Strafenden gegenüberstehen, sondern
in Deiner Liebe unüberbietbar geborgen leben, die Du zu mir hast,
der ich mit Dir eins bin.
Ich habe gepredigt, daß Du keine guten Werke forderst, um Deine
unbegrenzte Güte zu erweisen, daß gute Taten statt dessen daraus
folgen, daß einer sich Deine Versöhnung schenken läßt. -
Sie haben nicht verstanden, daß sie unendlich geliebte Menschen
sind, die es gar nicht nötig haben, aus der Angst
um sich zu leben. Sie leben aus der Angst um sich, sie meinen immer noch,
zu kurz kommen zu können. Sie haben keine Ahnung, wer sie sind. Sie
können weder sich selbst richtig beurteilen noch ihr Handeln. Sie
haben nicht gehört, sie haben nicht zugehört, sie hören
nicht zu. Sie leben aus Illusionen und handeln wie Blinde, Taube und Gefangene.
Hätten sie mich verstanden, sie ließen Dich, Vater, bitten:
»Laßt Euch mit Gott versöhnen« (2 Kor 5,20)!
So schenk ihnen Versöhnung, auch ohne daß sie sie heute schon
verstehen. - Vater, ich bitte Dich - wie es das Vorrecht eines
Propheten schon immer war - für
alle diese Henker und Mitläufer.
Eine Schuld habe ich nicht zu bekennen, wie Du sie sonst immer von den
Galgen hier hörst. Ich bitte Dich vielmehr der anderen wegen. Ihre
Wirklichkeit will ich ertragen und will glauben, daß es nicht die
Deine ist.
Wandle ihre Wirklichkeit in Deine, daß sie nicht mehr vom Kreuz
reden, sondern den Gekreuzigten predigen. Amen.
2 Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit
mir im Paradies sein. - Vater, mein Nachbar hat mir sein Bestes geschenkt.
Er nimmt mich an und sagt Ja zu mir. Ich wollte auch Ja zu ihm sagen wie
Du. Vielleicht versteht er jetzt, daß alles um uns herum uns nur
täuschen will, daß niemand uns das Leben nehmen kann, da Du
es beschützt. - Vielleicht versteht er, daß all das hier
kein Einwand dagegen ist, daß Dein Wort gilt, daß meine Predigt
die Wahrheit ist. Ich sagte ihm, daß er es heute noch sehen wird:
Wir sind bei Dir, wir sind im Paradies. Auch wenn wir es nicht sehen,
nichts kann uns trennen von Dir (Röm 8,38f). Und bald werden
wir es sehen, was wir jetzt glauben: im Paradies zu sein.
Vater, ich bitte Dich für alle, die Ja zu mir sagen, »laß
sie alle eins sein« (vgl. Joh 17,11), zu ihrem Versagen
stehen - wie mein Nachbar hier - und bitten wie er, damit sie
in Anspruch nehmen, was Du für alle bereitet hast.
Gerade sein Sündenbewußtsein bindet ihn an mich. So hast Du
Dir alles zum Werkzeug gemacht. - Meine Apostel sind weg. Schenke
ihnen, was mein Nachbar hat. In ihren Augen ist er einer der letzten.
Hab auf sie acht. - Du verläßt uns nicht.
Weil Du sie bittest, sich versöhnen zu lassen, will ich für
sie bitten, daß sie für sich bitten - wie mein Nachbar
hier, meine vorläufig letzte Gemeinde.
3 Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände! -
Vater, ich habe meinen Glauben »gelebt«, es war ein geglaubtes
Leben. Du wirst es nun bald ins Sehen wandeln. - Hilf mir zu glauben
in dieser Stunde. Meinem Kopf will ich befehlen, ganz gleich, wie ich
mich fühle. Dein will ich sein in Deiner grenzenlosen Güte,
Dir will ich vertrauen mit meinem ganzen Verstand, mit all meiner Vernunft,
mit ganzem Urteil. Du gibst mir die Kraft, mir zu befehlen, die Welt zu
überwinden, über ihr zu stehen, auferstanden zu sein an Deiner
Seite.
Mein Kopf sieht klar. Kein Argument haben sie gegen Dein Wort gefunden.
Das ist das Kreuz, das bleiben wird für alle Christen: Unbegründeter
Spott, willkürliche Ablehnung. Das Kreuz, vor dem ich Angst habe,
macht mir schließlich nichts aus, sie sehen dagegen nur Willkür
mit schlechtem Gewissen. Was zählen die Schmerzen, welche Macht haben
Tränen? - Laß sie es doch noch hören, aber bevor
sie weinen. Komm all ihrer Verzweiflung zuvor. Laß sie hören.
Ich bitte Dich. Deine grenzenlose Güte aufzudecken, ist doch Dein
einziger Wunsch.
Deine Hände haben die zärtlichsten aller Zärtlichkeiten.
Sie gehorchen meinem Befehl, wenn ich höre auf Dein Wort, wenn ich
Dir gehorsam bin, vom Hören voll.
Dein Wort lebt in jedem Menschen: Die unbegrenzte Liebe, die Du zu mir
hast, der ich mit Dir eins bin im Heiligen Geist. Vater, solches Befehlen
ist das wahre Gehorchen. Du hast es so gerichtet, daß auch alles,
was uns richten will, uns dient. - Hilf, daß alle »ihr
Leben glauben« in Deinen Händen. Amen.
Palmsonntag
Jes 50,4-7; Phil 2,6-11; Lk 22,14-23,56
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