Gott ist
nicht gerecht!
sondern gütig!
Tagesgebet
Gütiger Gott, Du hast uns durch Deinen Sohn erlöst
und als Deine geliebten Kinder angenommen. Sieh voll Güte auf alle,
die [an] Christus glauben und schenke ihnen die wahre Freiheit und das
ewige Erbe. Darum bitten wir durch Jesus Christus.
Zur regulären Ausbildung innerhalb
des Jesuitenordens gehören während der zweijährigen Noviziatszeit
nach dem Abitur neben den dreißigtägigen Exerzitien einige
weitere Praktika. So waren Kollegen von mir aus einer benachbarten Ordensprovinz
für sechs Wochen zwischen richtigen Arbeitern und in deren Wohnwagen
auf der Autobahn, um einige Teilstücke auszubessern. Sollten Sie
demnächst einmal auf den Autobahnen des Münsterlandes durch
plötzliches Ruckeln Ihres Fahrzeugs an diese Novizen erinnert werden -
nicht alle Unebenheiten des Lebens gehen auf die Gesellschaft Jesu zurück.
Solch heißes Asphaltieren unter glühender Sonne ist mir erspart
geblieben. Woran aber wohl kein Novize seit über 500 Jahren vorbeikommt,
ist das sogenannte »Krankenexperiment«. Auch dabei geht es
darum, die im bisherigen Verlauf des Noviziats eingeübte ordensgemäße
Lebensart in anderer Umgebung zu erproben.Dazu gehört auch der Versuch,
dem Gelübde des Gehorsams zu entsprechen. Zwei - oder wenn es
Pater Magister recht erscheint - auch drei Novizen erfahren eines
Tages, daß sie vom kommenden Morgen an für sechs Wochen in
einem Hospital dem Pfleger einer Krankenstation zur Hand gehen werden.Da
Novizenmeister der Gesellschaft Jesu in der Regel sehr vernünftige
Leute sind und da das Fiebermessen und die Dankbarkeit der Patienten mir
sehr gefielen, wurde meinem Wunsch stattgegeben, dieses sechswöchige
Krankenexperiment ein zweites Mal zu absolvieren.
Einem Berliner Chemiker, bei dessen Sterben ich dabei war, gab ich das
mir bei meinem Eintritt in den Orden überreichte Kreuz mit in seinen
Sarg. - An einem Montagmorgen war ich dabei, als ein Arzt die Leiche
eines zwölfjährigen Berliner Jungen sezierte. Das blühende
Leben hatte beim sonntäglichen Halmaspiel mit seiner Großmutter
ein Spielsteinchen verschluckt. Der Junge war aber keineswegs daran erstickt,
wie ein sofortiger Luftröhrenschnitt ergeben hatte. Schuld waren
allein die Hustenreflexe gewesen, wie nach entsprechend langem Schnitt
des Arztes das Halmasteinchen mitten zwischen den Nudeln im Magen zeigte. -
Als ich die Mutter des Jungen kennenlernte, erfuhr ich, daß sie
seit langem Witwe war und schon zwei weitere Söhne auf ähnliche
Art »verloren« hatte. - Ist das Gerechtigkeit,
ist Gott gerecht?!
Unsere Kirche hätte uns eben im Tagesgebet unseren himmlischen Vater
durchaus anreden lassen können »Gerechter Gott«. Mit
einem Bibelprogramm könnte man im Computer ganz schnell feststellen,
wie häufig das Wort »gerecht«, »Gerechtigkeit«
in der gesamten Heiligen Schrift vorkommt - einerseits in bezug auf
Gott, andererseits in bezug auf uns Menschen.
Ein entscheidender Unterschied zwischen der Gerechtigkeit Gottes und
der Gerechtigkeit der Menschen würde dabei sofort ins Auge springen.
Von der Gerechtigkeit Gottes ist an keiner Stelle in dem Sinn die Rede,
daß Wahrheit und Liebe in Einklang
sind, wie das bei uns Menschen Voraussetzung dafür ist, von Gerechtigkeit
zu sprechen. Kümmerten sich nicht unsere Gewerkschaften darum, man
müßte sie erfinden oder erneuern.
Wenn genügend Stellen aufgelistet sind, in denen ausdrücklich
von Gottes Gerechtigkeit die Rede ist, [von Seiner Gerechtigkeit, von
der Gerechtigkeit des Gottes des Himmels,] könnte die Computersuche
abgebrochen werden: Gott ist nicht im Sinn der Menschen gerecht. Man kann
sogar sagen: Gott ist in diesem Sinn überhaupt nicht gerecht.
Sollte sich unter den gefundenen Stellen auch die berühmte gefunden
haben, daß Gott seine Sonne scheinen läßt über Gerechte
und Ungerechte (vgl. Mt 5,45), ergibt sich die verblüffende
Frage, ob Gott denn allen Ernstes ungerecht ist. Die Lösung des Problems
ist mehr als zufriedenstellend. Mit einem Gott, der ungerecht ist, wollten
wir es ja nun wirklich nicht zu tun haben. Mit einem Gott, der gerecht
ist, der uns also gäbe, was wir verdienen, könnten wir aber
auch nichts anfangen. Er ließe uns auf der Stelle ersticken.
Gott ist mehr als gerecht. Er gibt den Menschen, denen er von Anfang
an sein göttliches Leben verliehen hat, mehr als sie verdienen -
bedingungslos. Gott schenkt den Menschen, was sie brauchen, nicht nur
das, was sie verdienen. Die Menschen brauchen sein unendliches Verzeihen,
seine bedingungslose Güte (vgl. das Gleichnis von den Arbeitern
im Weinberg, Mt 20,1ff).
Wer sowohl auf notwendige als auch ausreichende Art und Weise über
das Wesen menschlicher Gerechtigkeit und göttlicher Güte nachgedacht
hat, wer darüber hinaus die Kenntnis des Evangeliums geschenkt erhielt,
daß Gott unter allen Umständen zu jedem Menschen unüberbietbar
gütig ist, dieser Mensch, ein Christ, sündigt, wenn er es bei
bloßer menschlicher Gerechtigkeit beläßt, statt den Menschen
in göttlicher Güte zu begegnen (vgl. W. Marxsen, K.G. Steck,
Absage an die Gerechtigkeit, München, Kaiser, 1979).
Im weiteren Verlauf unseres Tagesgebetes hieß es: »Du hast
uns durch Deinen Sohn erlöst und als Deine geliebten Kinder angenommen.«
Das »und« der Aufzählung mag in wörtlicher Rede
hingenommen werden; in einem theologischen Aufsatz dürfte dieses
»und« nicht vorkommen; es kommt aber in vergleichbaren Fällen
immer vor, gute theologische Aufsätze sind sehr selten. Zwischen
Elemente, die inhaltlich vollkommen identisch sind, gehört kein »und«.
Christliche Kirchen verstehen unter der Erlösung und der Annahme
aller als Gottes geliebte Kinder dasselbe.
Wir beteten: »Gütiger Gott, Du hast uns durch Deinen Sohn
erlöst.« Können wir wirklich unmittelbar nach der Anrede
des himmlischen Vaters als des gütigen Gottes die Betrachtung der
Erlösung auf uns hier beschränken oder auf Christen im allgemeinen?
Liegt da nicht gerade sofort die Ungerechtigkeit, die wir genausowenig
wie die Gerechtigkeit dem gütigen Vater in die Schuhe schieben können?!
Gott ist nicht gütig, Gott ist bedingungslos gütig. Das hat
uns Jesus gepredigt. Der Vater schenkt unterschiedslos jedem Menschen
ohne Abwarten irgendeiner Vorleistung, was der Mensch zu göttlichem
Leben braucht. Gott beläßt es nicht bei dem, was der Mensch
in all seiner Kümmerlichkeit verdient. So ist das bei Christen, so
bleibt und ist das bei Noch-Nicht-Christen. Jesus hat genau das -
nicht weniger und nichts anderes - gepredigt und uns durch die Erkenntnis
restloser Ohnmacht aller Angst um uns davon erlöst, uns von irgendeiner
Last der Welt erpressen zu lassen, von irgendeiner Schwierigkeit oder
Not oder Verleumdung ...
Trotz des »und« geht es also nicht um eine weitere, eine
zweite Tätigkeit Gottes, wenn er uns erlöst und als geliebte
Kinder angenommen hat. Es gibt zwei Arten der Gotteskindschaft. Eine ist
weit im voraus zum Glauben im Sinne Jesu zugänglich und zufriedenstellend
zu beweisen. Wir sind als Geschöpfe seine Kinder. Und die zweite
Gotteskindschaft ist genau das, was wir im Hören des Evangeliums
zur Kenntnis nehmen: Wir sind als Geschöpfe unendlich geliebt, seine
bedingungslos geliebten Kinder.
Der Selbstoffenbarung Gottes bedürfen wir überhaupt nicht,
um zu erkennen, daß wir seine Geschöpfe sind. Über kurz
oder lang gibt jeder zu, daß er sich nicht sich selbst verdankt,
daß er kein Maiglöckchen sprießen lassen kann, daß
er auf andere Menschen angewiesen ist. Es ist ohne die Predigt Jesu jedermann
einsichtig, daß er nicht aus sich heraus alles im Griff hat. Aus
eigenem Nachdenken folgt schon, besser nicht alles zu tun, was man kann.
Die Geschöpflichkeit der Welt und somit die Existenz des Schöpfers
ist beweisbar. Diese »natürliche« Gotteskindschaft kann
jedem einsichtig gemacht werden, lange bevor er in der Predigt Jesu den
Gesamtzusammenhang zur Kenntnis nimmt.
Verwenden wir das Wort »übernatürliche« Gotteskindschaft,
so ist mit diesem seltsam anmutenden Wort nichts gemeint, das uneinsichtig,
unüberschaubar, ominös, dunkel oder rätselhaft ist (vgl. Joh 15,15).
Geheimnisvoll?! Ja, Gott will, daß wir es weitersagen. Gemeint ist
die Gotteskindschaft, bedingungslos geschenkt, auf die kein Mensch von
sich aus, von Natur aus, einen Rechtsanspruch hat und die unausdenkbar
ist (vgl. Röm 10,17). - Es gibt Geheimnisse, die behält
man für sich, und es gibt Geheimnisse, wie das »Geheimnis des
Glaubens«, die wollen aufgedeckt, die wollen weitergesagt werden.
In jeder Eucharistie antworten wir dem Priester auf sein »Geheimnis
des Glaubens« mit dem Versprechen: »Deinen Tod, o Herr, verkünden
wir
!«
Unter Gnade, übernatürlicher Beschenkung, göttlicher Be-gab-ung,
verstehen wir das Anteilhaben am Vaterverhältnis Jesu. Des Nazareners
Predigt geht ganz und gar darin auf, uns aufzudecken, daß jeder
Mensch von seinem Beginn an in die Liebe des Vaters zum Sohn aufgenommen
ist. Hier sind die Worte »Güte« und »Gütiger
Vater« bis in ihre letzte Tiefe ausgelotet und verstanden (verstanden,
nicht begriffen, vgl. Joh 3,3 und 3,8).
Wenn wir beten »Gütiger Gott« und »Du hast uns
durch Deinen Sohn erlöst«, wenn wir beten »Du hast die
Menschen als Deine geliebten Kinder angenommen«, wenn wir das nicht
sprechen, sondern beten, dann ist das unsere Antwort auf unser Wort, Christus,
Gottes Wort über uns zu uns (vgl. Joh 1,12f). Im Christentum
ist kein anderes Beten bekannt als dieser Gott gegenüber versprochene
Wunsch, Antwort zu sein auf dieses Wort. Ein Christ ist Antwort aufs Wort,
unverdientermaßen und auf unüberbietbare Weise Kind Gottes
zu sein.
Im zweiten Teil unseres Eröffnungsgebetes ging es darum, Gott möge
voll Güte auf uns hier schauen, auf die sehen, die [an] Christus
glauben. ­ Wieder stehen wir damit zunächst vor einem Problem.
Einerseits sprechen wir Gott an als den zu allen Menschen gütigen
Vater. Dann aber scheinen wir Gottes Blicke lenken zu wollen nur auf einige
Menschen. Lange noch nicht alle haben durch das Hören des Evangeliums
Kenntnis von ihrer Gotteskindschaft, dieser alle Angst der Welt entmachtenden
Art, Kind Gottes zu sein. Bedenken wir also zum Schluß noch das
Ende unseres Gebets. In ihm liegt auch verborgen der Grund, warum unsere
Kirche uns dieses Gebet überhaupt sprechen läßt. Nach
unserer Bitte, der gütige Vater möge seine Blicke lenken auf
die Menschen, die Christus glauben, die an Christus glauben, geht es weiter
»und schenke ihnen die wahre Freiheit
und das ewige Leben«.
Es besteht nicht der geringste Unterschied zwischen der wahren Freiheit
und dem ewigen Leben. In diesem Gebetsschluß vereinen sich unser
Problem, einerseits Gott als den allzeit gütigen Vater anzusprechen,
dann aber anscheinend nur für die Christen zu beten, und andererseits
der Grund, dieses Gebet überhaupt zu sprechen.
Wenn wir in unserem Beten der Worte »schenke den Menschen, die
[an] Christus glauben, die wahre Freiheit«, wenn wir in diesen Worten
Antwort sein wollen aufs Wort, wenn wir das nicht sprechen, sondern beten
wollen, geht das nicht ohne genaue Kenntnis der »Freiheit«.
Dem Selbstverständnis des Menschen entspricht es, daß er immer
wieder von jedem Menschen lernen kann: wer gesund ist, hat ein dialogisches
Selbstverständnis. Er geht immer wieder davon aus, von einem anderen
lernen zu können, ja sogar davon, von einem anderen einmal etwas
hören zu können, das ihn sogar seines Menschseins wegen entscheidend
angeht.
Rosa Luxemburg vertrat mit ihrer ganzen Person die Überzeugung:
»Die Freiheit ist immer die Freiheit des anderen.« Stellen
Sie sich bitte vor, Sie hätten das Evangelium gehört, Sie hätten
die Kenntnis, sich von niemandem und nichts auf der Welt erpressen lassen
zu brauchen. Stellen Sie sich bitte vor, Sie hätten die Kenntnis,
daß Gott auch Sie in seine unermeßliche Liebe zum Sohn aufgenommen
hat, auch Ihnen Anteil geschenkt hat am Vaterverhältnis Jesu; stellen
Sie sich bitte vor, Sie hätten diese Kenntnis und verweigerten deren
Weitergabe an andere. Alle anderen behielten durch ihre Unkenntnis den
Eindruck, ihre Angst sei begründet. Die Wurzel aller Unmenschlichkeit
hielten sie nach wie vor für unüberwindbar. Sie blieben in ihrer
Angst gefangen, ja sogar in ihrer Angst vor der Angst, der letzten Instanz,
von der sie meinten, daß sie im Leben und Sterben das letzte Wort
behielte.
Unsere Teilhabe an der unüberbietbaren Güte des himmlischen
Vaters, unsere »wahre Freiheit« besteht darin, diese Güte
anderen aufzudecken. Inanspruchnahme ist Weitersagen. Wer das Evangelium
nicht weitersagt, hat nichts davon, es gehört zu haben. Er gleicht
dem Besitzer des größten Sparbuches der Welt, der nicht weiß,
bei welcher Bank es geführt wird. - So wie Sie den Wunsch mit
auf die Welt brachten, zu erfahren, wer Sie eigentlich sind, so hat jeder
Mensch die Urfrage, wer er ist. Haben wir das Geschenk gehört, die
Gnade vernommen, die Kenntnis, unüberbietbar geborgen, erlöst,
zu sein und verweigern die Weitergabe dieser »Information«,
kann von Freiheit reden, wer will, ohne daß daraus je Freiheit wird.
»Nie kann ein Volk, das andere unterdrückt, frei sein«
sagt Lenin und ist sich darin hundertprozentig mit Gott einig. Wer mitten
in der Wüste die Information »Oase« Verdurstenden vorenthält,
-
Wovon das Herz voll ist, läuft der Mund sowieso über ...
23. Sonntag im Jahreskreis - Lesejahr
Weish 9,13-19; Phlm 9b-10.12-17; Lk 14,2-33
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