30. Sonntag im Jk – Lesejahr A

Gehalten am 29. Oktober 1990 in St. Peter zu Köln

Ex 22, 20 – 26 1 Thess 1, 5c – 10 Mt 22, 34 - 40

GOTT BIETET: SICH SELBST
- UNENDLICHES ERBARMEN
GOTT GEBIETET: UNS SELBST
- GLAUBENDE

Natürlich könnte die Predigt so beginnen:

1. Sobald
allen Hörern der Predigt klar ist, daß Liebe kein Gefühl ist, sobald klar ist, daß wir Gefühle, die das (positive) Urteil begleiten, das wir Liebe nennen und Zuwendung, Zuneigung und Interesse, sobald klar ist, daß wir die Gefühle nicht mit der Liebe selbst verwechseln wollen - und schon gar nicht mit Emotionen;
- Gott denkt nicht immer über unser Tun, wohl aber immer über uns unendlich gut -

sobald 2.
bei jedem, der die Predigt Jesu jeder Rede vorzieht, geklärt ist, daß dieses positive Urteil sich auf mannigfache Art und Weise zeigen kann, aber ohne nur dann vorhanden und gelebt sein zu können, wenn es sich auch tatsächlich zeigt;
- Gott kann seine unendliche Liebe zu uns endlichen Menschen überhaupt nicht zeigen; wir erkennen sie ausschließlich glaubend, nicht aber an der Welt, am Wohlbefinden z.B. ablesend

und 3. sobald
bei allen, die sich nicht alles vorsetzen lassen, Klarheit auch darüber herrscht, daß Liebe als solch positives Denken und Entscheiden erkannt werden will - und in erster Linie eben ganz und gar nicht, sondern erst in zweiter will, daß es dem Geliebten auch gut geht;

- Gott will nicht, daß wir Gutes tun, sondern daß (er als der unendlich liebende Gott) gepredigt wird: wer erkennt, daß dem Menschen in unüberbietbarer Geborgenheit letztlich gar nichts geschehen kann, der erkennt, sich nach seiner Angst um sich nicht richten zu müssen: der (auch) kann Gutes tun: Gott will, daß wir Gutes tun können! -

und sobald 4.
unterschieden wird zwischen solcher Liebe, die auf Gegenliebe hingeordnet ist und solche findet, und solcher Liebe, die keine Gegenliebe findet, aber eben dennoch bestehen kann,

- Die Aussage, Gottes Liebe, die ja meist keine Gegenliebe findet, die Aussage, Gottes Liebe zu uns sei bedingungslos, ist nicht gegen die Vernunft; Gottes Liebe zu uns ist auch keine Liebe, die uns gegenüber stünde und also auf unser Fehlverhalten, auf das Ausbleiben unserer Gegenliebe reagieren müßte; vielmehr sind wir in die Liebe Gottes, des Vaters, zum Sohn hineingenommen -

sobald diese vier Punkte restlos klar sind und man sich erst so und deshalb auch sicher sein darf, auch im wesentlichen verstanden zu werden, braucht nur noch gesagt zu werden, worauf man von allein nicht kommen kann:

Gott liebt jeden Menschen ohne Vorbedingung, ohne jegliche Leistung seinerseits unendlich.

Dem Menschen bleibt nach dem Hören dieses gesamten Evangeliums nur noch, sich dieser unüberbietbaren Liebe Gottes auch zu freuen. Dann glaubt er damit im Sinn Jesu und darf sich Christ nennen. Mit Recht.

Womit die Predigt nach allen Regeln der sich zu Recht auf Jesus berufenden Kirchen schon beendet ist; wem sie zu kurz ist, der höre eine zweite.

Natürlich hätte die Predigt auch so beginnen können:

Gott denkt nicht immer über unser Tun, wohl aber immer über uns unendlich gut. Diese unendliche Liebe kann Gott uns endlichen Menschen nie zeigen - in der "Welt"; wir erkennen sie glaubend - d.h. in der "Gnade". Könnten endliche Menschen den unendlich Liebenden in der Welt erkennen, etwa am Wohlbefinden ablesen, wäre die Menschwerdung Gottes in keiner einzigen Predigt erforderlich. - Jede Predigt wäre überflüssig.

Die Welt läßt uns erkennen, daß das Gute dem Schlechten, dem Bösen und dem Mangelhaften vorzuziehen ist; zu dieser Erkenntnis bedarf es keiner (Selbst-) Offenbarung Gottes. Die Selbstoffenbarung Gottes dürfte nicht verdrängt, sondern völlig unbekannt sein, wo die Liebe als Gesetz, als Gebot in die Mitte der Betrachtung gestellt wird, wo überhaupt die Worte "Liebe" und "Gebot" in einem Zusammenhang fallen: Aus der Verbreitung dieses oder jenes Katechismus folgt noch lange nicht, daß Gott auch tatsächlich der ist, der wie auf einer Versteigerung mit dem Hammer in der Hand ruft: "Die Liebe! - Erstes Gebot ..."

In diesem Sinn, in dem bei Versteigerungen geboten wird, ist dem Wort "Gebot" zwar etwas vom Charakter des Zwangs genommen, aber es kommt eben keiner ohne Leistung davon - höchstens zugleich auch ohne Bild oder Kunst.

Gott aber hat gar kein Gebot im Kopf, sondern nur Liebe. Bei ihm ist kein Platz für Interesse an guten Taten, - Gott will nicht, daß wir Gutes tun, sondern daß (er als der unendlich liebende Gott) gepredigt wird: Gott will, daß wir Gutes tun können! - Daß wir Gutes tun wollen, entspricht unserem Wesen; die unverkürzte Predigt unendlicher Liebe entspricht entsprechend Gott - und damit dem ganzen Menschen, also auch in all seinem wirklichen Wollen: Die Aussage, Gottes Liebe zu uns sei bedingungslos, ist nicht gegen unsere Vernunft, die zu lieben wir aufhören sollten, allein Gott zu überlassen; Gottes Liebe zu uns ist auch keine Liebe, die uns gegenüber stünde und also auf unser Fehlverhalten, auf das Ausbleiben unserer Gegenliebe, auf die sie selbstverständlich hingeordnet ist, reagieren müßte; vielmehr sind wir in die Liebe Gottes, des Vaters, zum Sohn hineingenommen und so - zum Tun des Guten befreit - mitgeliebt.

Sobald die vier wesentlichen Fragen zum Begriff Liebe durch die unbestreitbar ins Gespräch führenden Antworten erledigt und innerhalb des Evangeliums gesagt sind, sollte man meinen, sei die Predigt mit (!) diesem heutigen Text zur Sicht des Stellenwerts der Liebe durch Jesus beendet. -Diese Meinung sei ausdrücklich bestätigt und die Predigt hiermit beendet.

- Beginnen wir eine zweite Predigt, weil diese etwas kurz ist.
Die Predigt fängt aber so an:

Wir sollen also Gott lieben. Das ist alles - und kaum einem neu. Manche werden das schon gehört haben. Aus deren Reihen könnte man jetzt hören: "Und den Nächsten!" - Also gut:

Wir sollen lieben!
Warum eigentlich?!

Daß sich Hinzin und Kunzin freuen, wenn ich sie liebe, leuchtet noch ein. Aber:

Was hätte Gott von meiner Liebe? -
Warum sollen wir Gott lieben?

Sollte die Rede von der Menschwerdung Gottes Sinn machen, dann teilt Gott die Hinzes all und die Kunzes keineswegs in gute und weniger gute Menschen ein, sondern in solche, die hierauf die richtige Antwort kennen ...

Warum sollen wir Gott lieben, warum?!
Damit er uns gnädig ist? Wer das für die Lösung des Problems hält, der meint beim Betrachten eines Hochzeitsfotos vermutlich (,) auch (,) die Ehe zu kennen. Gehen Sie bitte solchen Leuten in den Weg - mit der richtigen Antwort.

Wenn Sie wollen, kommen Sie mit. Wir starten im Norden. Nicht unbedingt, weil wir alle den Norden besonders gern haben. Andere starten mit uns vielleicht gerade deshalb im Norden, um ihn zu verlassen. Allen gemeinsam ist die Frage, auf die wir die richtige Antwort suchen:

Warum sollen wir Gott lieben, warum?!
Die Menschen vor Augen, mit denen wir über die richtige Antwort ins Gespräch kommen möchten, entwickeln einige unter uns bereits ein heftiges Verlangen - sowohl nach diesen Menschen als auch nach dem Gespräch über unsere Frage: Warum sollen wir Gott lieben, warum?! Andere empfinden sogar dieses heftige Verlangen ...

Was man so alles erleben kann! Wenn einer eine Reise tut ... usw. Aber erzählen können wir erst, wenn wir diese Erlebnisse reflektierten und so zu Erfahrungen machten. Es ist nicht nur fraglich, ob sich unreflektierte Erlebnisse überhaupt erzählen lassen, es ist vor allem fraglich, ob man überhaupt jemandem einen Dienst erweist, wenn man vor ihm so einfach vor sich hinquasselt.

Wir erlebten schon bei unserem Aufbruch, daß einige ein heftiges Verlangen entwickelten, andere das sogar empfanden. Wieder andere sagten, sie hätten den Norden besonders gern, andere meinten, den Süden zu bevorzugen und entschieden sich, den Norden gerade deshalb zu verlassen.

Ob uns Alt- oder Mittelhochdeutsche zuhören, wenn wir dies erzählen, nachdem wir es uns durch den Kopf gehen ließen, Lateiner, Griechen oder Inder: Sie werden uns alle verstehen und können uns auf den Kopf zusagen, daß wir liebten!

Diejenigen unter Euch, werden sie sagen, die Menschen und Gespräche gern hatten, etwas bevorzugten, planvoll verließen oder Verlangen entwickelten, in allen Fällen also entschieden, auswählten und urteilten, die liebten. Und die, die Verlangen sogar empfanden, die urteilten nicht nur, die fühlten auch, die fühlten sich in ihrem Urteil auch wohl. Ihre guten Gefühle lassen sich auf ihr richtiges Urteil zurückführen, auch wenn das selten jemand tut.

Bei Emotionen könnte es niemand, sie sind zu diffus, ins Kraut geschossene Gefühle, die weder vom Kopf begleitet sind noch jemandem nutzen. Gefühlswallungen mögen Ausdruck des Gefühls sein, wenn man so tut, als fühle man. Echtes Gefühl erfordert wenig Emotion, es tut nicht, als ob.

Liebe ist ein unterscheidendes, auswählendes und entschiedenes Urteil: Liebe kann Arbeit sein. Liebe ist meist Arbeit, die nicht auf einen anderen abgewälzt werden kann. Wissen Sie einen anderen Grund, warum es so wenig Liebe in der Welt gibt?!

Wer unter uns Nordlichtern nun nicht Einheitsbrei liebt, sondern Differenzierungen, - ersteres glückt ohnehin nur im Wahn oder Irrtum, - der sieht vor sich die Leute, die uns aus dem Süden entgegenkommen, zur linken eine zweite Gruppe unter uns und zur rechten eine dritte.

Die eine Runde stellt fest, daß noch in der gotischen Sprache "Liebe" dieselbe Wortwurzel hatte wie Glaube und Hoffnung - eine Erkenntnis, bei der Taube nicht so fehlgehen, wenn sie immer "Loben" hören statt "Bahnhof":
galaubeins - lubains - lubo.

Im Glauben antwortet der ganze Mensch, hoffend verspricht er sich als ganze Person, auch morgen ein Glaubender zu sein. Als Liebender ist er derselbe Mensch: Er freut sich über Gottes grenzenloses Erbarmen mit Haut und Haar für andere.

Die Gruppe rechts vom Empfangskomitee formuliert inzwischen unser Thema um: Warum sollen wir Gott lieben?! Warum sollen wir nach Gott ein heftiges Verlangen haben, gut über ihn urteilen, vor allem über ihn und immer gut urteilen über Gott? Immer! Warum?!

Daß negative Urteile Urteile sind und also Liebe, negative Liebe, - viel leichter zu ertragen als Desinteresse, - läßt sich nebenbei unterbringen:

Wir sind in Mecklenburg-Vorpommern gestartet! Daß das klar ist und mir keiner auf die Idee kommt, ich müßte bei der Gruppe aus dem Süden jetzt mein Pauschalurteil aufgeben, also ein negatives! - und die Gruppe aus Bayern kommen lassen! - Der einzige deutsche Freistaat wird nicht einmal erwähnt! Die Gruppe gebärdet sich auffällig genug, die uns da entgegenkommt!

Ein Vater fällt besonders auf, der seinen Sohn vor sich herschieben will, was ihm aber nicht, wohl seit kurzem nicht mehr gelingen will, wie es scheinen will. - Die Sachsen, unter denen sich dieser Vater bemerkbar machen will, voll bei unserem Thema "Liebe", wollen ihn zurückhalten: Das täte doch nichts zur Sache! Doch! Er hätte bemerkt, daß sein Sohn bemerkt hätte, daß ein Mädchen bemerkt hätte, daß er es bemerkt.

Der junge Mann, der sich nicht mehr schieben läßt, ist außer sich. Zum erstenmal. Im Dialog.

Da reflektieren doch schon wieder welche! In der Ruhe, die sich ergibt - unter Bayern eine besonders verdächtige Form von Lärm - wird eine neue Frage vernommen: Ob Gott geliebt, gut beurteilt sein will, weil er sich als liebender Gott bemerkbar machen, bemerkt sein will?!

Ein langer Bart hat diese Frage wohl nicht mitbekommen, der Vater des Vaters und Opa des Reifgewordenen: Mein Sohn, Dein Sohn, den Du liebst, liebt! Und freut sich, weil seine Liebe im Ziel ist: Er bemerkte, daß seine Liebe bemerkt wurde. Darum ist er außer sich: Er ist im Ziel. - Macht mein Enkel Gott etwas vor, oder hat Dein Jüngster das von Gott?!

Dieses Vaters Jüngster urteilt: Jetzt oder nie! Das ist der richtige Augenblick! Nicht zum Sterben -ich will ja nicht berühmt werden, - sondern meine Liebe noch eine Weile zeigen können. Und er tut, was er kann:

Weil der erste Kuß so leise ist, können wir ihn hier auch nicht hören. Was wir aber können: Wir können sicher sein, daß die beiden einander schon liebten, bevor sie diese ihre Liebe einander auch so richtig zeigen konnten.

Ob wir über Gott gut urteilen sollen, weil er sich so als liebender Gott bemerkbar machen, so seine Liebe zeigen kann?

Jetzt sind angekommen:
Liebe ist ein positives Urteil,
Liebe will erkannt werden
und drittens:
Liebe kann sich zeigen, sie kann aber auch gelebt sein, ohne gezeigt zu sein.

Was sagen wir zu der Frage: Ob wir über Gott gut urteilen sollen, weil er sich so als liebender Gott bemerkbar machen, so seine Liebe zeigen kann?

Eher ziehen zehn Ziegen zwölf Zentner Zucker zum Zoo, und zwar pünktlich, so daß noch gar keiner da ist, der es bemerkt. - Alte Hasen unter uns erinnern sich: Da waren ja auch vier Fragen zu stellen an "Liebe" und "lieben".

Aber nach der vierten Frage und der Antwort, daß Liebe zwar immer hingeordnet ist auf Gegenliebe, aber eben auch ohne auskommen kann, wenn sie echt ist, nach dieser vierten Frage liebt Gott immer noch nicht, will er auch immer noch nicht als liebender erkannt werden. Eher ziehen besagte Ziegen besagten Zucker zum Zirkus, als daß Gott uns seine Liebe zeigt: Solche Gedanken sind rein menschlich, sie als richtig eingestuft - das charakterisiert Pharisäer. Mt tut es heute so:

"Als aber die Pharisäer hörten, daß er den Sadduzäern das Maul gestopft hatte, versammelten sie sich."

Jesus tut alles, um die Sadduzäer hörbereit zu machen. Ob die Sadduzäer dann endlich zuhören, was Jesus zu sagen hat, wird nicht berichtet. Die Pharisäer aber begnügen sich damit, von Jesus nur das Vorfeld seiner Predigt wahrzunehmen. Und so bleiben sie bei ihrem mitgebrachten Lieben - Loben - Lauben, Erlauben, (G)lauben. Menschenweisheit, aber nicht Jesu Predigt: Gottesweisheit. Das Hören historisch zugänglicher Sachverhalte wie Versuche, Leute durchs Maulstopfen zum Hören zu bringen, genügt ihnen, sich zu versammeln.

Der Satz: "Als aber die Pharisäer hörten, daß er den Sadduzäern das Maul gestopft hatte, versammelten sie sich." ist von vorn bis hinten - wie jeder Satz im NT - theologisch gemeint! Und wir ändern den Satz deshalb inhaltlich, wir ändern ihn in seinem theologischen Verständnis kein bißchen, wenn wir stattdessen lesen: "Als die Molkereibesitzer spitzkriegten

- Mt schreibt "hörten", damit wir nur ja sofort fragen: "Na, was?! Gottes- oder Menschenwort?!" -

"als die Molkereibesitzer spitzkriegten, daß der Innungsmeister sich wie ein Hahn benimmt, der glaubt, daß die Sonne aufginge, um ihn krähen zu hören, stimmten sie auf ihrer Versammlung mehrheitlich für seine Frau."

Menschenweisheit bleibt Menschenweisheit. Ob sie klug ist oder publiziert. Menschenweisheit entmachtet mal hier, wenn's hoch kommt, mal dort ein bißchen unserer Angst. Sie beläßt es im übrigen aber bei Ver- und Geboten, auf die ich selber komme. Meine Vernunft und Weltbeobachtung bringe ich in eine solche Versammlung ja mit. Nur die Kraft bringe ich nicht mit, gegen meine Angst um mich all diesen Appellen der Welt zu entsprechen. Diese Kraft aber, die Gnade, wie sie sich in der Sprache der Kanzeln nennt, die gibt es auf solch menschlicher Versammlung nicht.

Versammlungen rund ums Menschenwort mögen begehrende und schenkende Liebe fördern, nicht nur Informationen vertrauende Haltung, sondern Menschen vertrauende Liebe. Wirklich tragende Liebe grundsätzlich ermöglichen, das tun sie nicht. Das können sie auch gar nicht. Vergebende oder gar verzichtende Liebe kann keine noch so gut-menschliche Versammlung ermöglichen. Lauter Hähne, finden Sie auf solchen Versammlungen, nach denen kein Hahn kräht, wenn es darauf ankommt.

Ganz anders eine Versammlung, die zusammentritt, nachdem die Menschen nicht Menschenwort hörten, sondern Gottes Wort. Der ganz anderen Qualität des Gehörten entspricht die ganz andere Qualität der daraufhin zusammenkommenden Versammlung. In ihr ist von keinem Gebot die Rede. Niemand wird bei den Appellen belassen, die er zuvor in der Welt fand und in diese Versammlung auch mitbringt. In dieser Versammlung braucht er sie sich nicht einmal noch einmal anzuhören.

Niemand wird beim Hören des Wortes grundsätzlich liebender Gegenwart Gottes in seiner Problematik gelassen, unter der er sich wähnt. Jeder kann dort hören, über ihr zu stehen, erlöst zu sein von dem Wahn, seiner Angst um sich nachgeben zu müssen.

Statt irgendeines Gebotes bietet Gott in dieser Versammlung sich selbst: Er ist identisch mit dem Wort unüberbietbarer Geborgenheit, die er jedem ohne jede Vorleistung schenkt.

Gebote bringen wir aus der Welt mit. Beim Hören dieses Wortes Gottes verschwindet auch keines unserer Probleme, die wir ohne Gebote ja gar nicht hätten. Wir nehmen all unsere Regeln und Gebote und alle damit zusammenhängenden Probleme auch nach der Predigt wieder mit heim.

Aber das rechte Verständnis des Evangeliums läßt uns erkennen, daß wir nie allein sind, wenn wir uns um Lösungen bemühen, daß uns auch dann letztlich aus der Gemeinschaft mit Gott nichts herausreißt, wenn wir das eine oder andere unserer quälenden Probleme nicht zu lösen vermögen.

Freude darüber ist grundsätzlich möglich. Auch sie ist von Gefühlen umgeben, aber nicht mit Gefühlen zu verwechseln. Diese Freude, dieser grundsätzliche Durchblick, aus der unendlich gütigen Begleitung Gottes nicht herausfallen zu können, diese uns geschenkte Sicht Gottes nennen wir Glauben. Neben unserer Sicht, dem Unglauben, der in Versammlungen führt mit vielen Vorzügen, die letztlich aber doch zu nichts taugen, gibt es die Sicht des Aberglaubens. Besonders weitverbreitet, weil dazu der Verstand ganz ausgeschaltet ist.

Mittelwerte, Mischungen aus Glauben, Un- und Aberglauben, sind konstruierbar, im Leben kommen sie nicht vor. Mittelwerte spiegeln nie die Wirklichkeit des Lebens: Sobald Sie mit einem Bein auf heißer Herdplatte stehen, mit dem anderen in Eiswasser, wird der Statistiker notieren, daß Sie angenehm warme Füße haben.

Keiner von uns wird mit dieser Erfahrung aufwarten können. Keiner wird Menschen begegnet sein, die dauerhaft um diese Freude bemüht sind; keiner wird auch nur einen benennen können, der sich aber auch nie der Freude freut. Mag es auch noch so anonym sein.

Die Grenze zwischen Glaubendem und Unglaubendem, ja, manchmal sogar die Grenzen zwischen Glaubendem, Un- und Aberglaubendem gehen mitten durch jeden. Jeder sollte damit rechnen, mal wie auf heißer Herdplatte mitten im Unglauben zu stehen - und mal wie in Eiswasser kopflos. Darum zu wissen, mit dieser Möglichkeit zu rechnen, ist wichtig für unsere Entscheidung, für welchen Trend wir sein wollen.

Die angenehm warmen Füße des Glaubens schenkt der Glauben schenkende Gott. Sehen Sie ein Gebot, und wenn's das der Liebe wäre, gehen Sie in die genau entgegengesetzte Richtung!

Im Wort Gottes ist neben der Bereitschaft zur Liebe die Fähigkeit zu diesen angenehm warmen Füßen. Hören Sie die verschiedenen Ausgangspositionen, wie sie Max Frisch (1911) und Blaise Pascal (19.6.1623, 19.8.1662) beschreiben:

"In der Forderung, man solle seinen Nächsten lieben wie sich selbst, ist es als Selbstverständlichkeit enthalten, daß einer sich selbst liebt, sich selbst annimmt, so wie er erschaffen worden ist. Allein auch mit der Selbstannahme ist es noch nicht getan! Solange ich die Umwelt überzeugen will, daß ich niemand anders als ich selbst bin, habe ich notwendigerweise Angst vor Mißdeutung, bleibe ihr Gefangener kraft dieser Angst ... "Ohne die Gewißheit von einer absoluten Instanz außerhalb menschlicher Deutung, ohne die Gewißheit, daß es eine absolute Realität gibt, kann ich mir freilich nicht denken", sagt mein Staatsanwalt, "daß wir je dahin gelangen können, frei zu sein." Max Frisch, Aus: Stiller, Frankfurt/Main, 1954 Seite 426

"Es ist die Natur der Selbstbezogenheit und dieses menschlichen Ich, nur sich selbst zu lieben und sich selbst zu betrachten. Aber was soll der Mensch tun? Er kann nicht verhindern, daß dieser Gegenstand, den er liebt, voller Fehler und Erbärmlichkeit ist: Er möchte gern groß sein und findet sich klein, er möchte gern glücklich sein und findet sich unglücklich; er möchte gern vollkommen sein und entdeckt an sich zahllose Unvollkommenheiten; er möchte der Gegenstand der Liebe und Achtung der Menschen sein, und er sieht, daß seine Fehler nur ihre Abneigung und ihre Verachtung verdienen. Diese Verlegenheit, in der er sich befindet, läßt in ihm die ungerechteste und verbrecherichste Leidenschaft entstehen, die man sich nur denken kann; denn er faßt einen tödlichen Haß gegen diese Wahrheit, die ihn rügt und ihn seiner Fehler überführt. Er möchte sie zunichte machen, und da er sie nicht in ihr selbst zerstören kann, zerstört er sie, soweit er kann, in seinem Bewußtsein und in dem Bewußtsein der anderen." (Blaise Pascal: Aus: Gedanken. Eine Auswahl, Stuttgart, 1956)

Und so vermeiden wir Eis und Herd nach Fjodor Michajlowitsch Dostojewski (11.11.1821, 9.2.1881): "Ist denn unser Leben kein Traum? Wartet, ich werde Euch noch mehr sagen! Gut, nun gut, der wird niemals in Erfüllung gehen, und das Paradies wird sich nie verwirklichen (das sehe ich doch selbst ein!) - gut, aber ich werde dennoch verkünden. Und dabei, wie einfach wäre es: in einem Tage, in einer einzigen Stunde - könnte sich alles verwirklichen! Die Hauptsache: Liebe die anderen wie Dich selbst! - das ist das Wichtigste, und das ist alles, weiter ist so gut wie nichts mehr nötig: sofort wirst Du wissen, wie Du leben sollst. Und dabei ist das ja doch nur eine - alte Wahrheit, die aber- und abertausendmal wiederholt und gelesen worden ist, und doch hat sie sich nirgendwo eingelebt! "Die Erkenntnis des Lebens - steht höher als das Leben, die Kenntnis der Gesetze des Glücks - steht höher als das Glück" - das ist es, wogegen man kämpfen muß! Und ich werde es tun. Wenn nur alle wollten, würde sich alles auf Erden sofort anders ordnen." F.M. Dostojewski: Der Traum eines lächerlichen Menschen (Aus: Sämtliche Erzählungen, München, 1964, Seite 520. - Hier unterstrichene Stellen sind dort kursiv)

Das Weitere findet sich. Amen.

Fürbitten - Himmlischer Vater!
Dein Sohn allein bietet, den Geboten alle Schrecken zu nehmen, lieben auch zu können, das Leben nicht unnütz zu erschweren.
Laß die Völker Deiner Erde hören, dann Dich hören und nicht überhören.
Laß die Kirchen Deines Sohnes sprechen und so allen Versuchen zu lieben Dich bieten.
Laß die Glieder Deiner Gemeinden sich sammeln, um sich zu vergewissern, sich zu unterscheiden und in den Weg zu gehen.
Darum bitten wir Dich durch ihn, Christus, unsern Herrn. Amen.

Kommunionmeditation
"Gott
bittet uns,
ihn zu lieben,
nicht
weil er unsre Liebe zu Ihm
braucht,
sondern
weil wir
unsre Liebe
zu Ihm
brauchen."
Franz Werfel (Theologumena, aus: Zwischen oben und unten, S. 140)