4. Fastensonntag – Lesejahr A

1 Sam 16, 1b.6-7.10-13b Eph 5, 8-14 Joh 9, 1-41


DAS WUNDER

"Von Geburt blind" - das klingt wie die Notiz eines Arztes, der die Diagnose "blind" stellt und bei der Erforschung der Vorgeschichte durch Befragen herausbekommt, daß es eben keine durch Krankheit erworbene Blindheit ist, sondern eben eine seit Geburt. - Narbenlos. - Es klingt so. - Die Bibel aber will allgemein verstanden werden und bietet keine unterhaltsamen kurzen Begebenheiten wie Reader's Digest. - In dem Blindgeborenen, so versteht es die Bibel, soll sich jeder von uns erkennen. Jeder Mensch ist von Geburt blind, taub usw. - so sagen wir es immer, wenn wir hier taufen - jeder ist stumm und lahm - gemessen an Gott.

Jeder, der die Welt für sich betrachtet, jeder, der das Evangelium nicht kennt, jeder, der nicht gehört hat, daß diese Welt in der Liebe Gottes zu Gott, des Vaters zum Sohn, unüberbietbar geborgen ist, jeder solche Mensch ist in den Augen der Bibel blind. - Personal blind, nicht körperlich, der Wahrheit des Franzosen entsprechend personal blind, daß man nur mit dem Herzen gut sieht. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. (Antoine de Saint-Exupéry, 1900 - 1944, Flieger und Schriftsteller). - Das Evangelium Gottes unüberbietbarer Güte ist die Botschaft, die die Augen des Herzens öffnet. Narbenlos.

Die Autoren des NT sind wie Jesus auf Glauben aus. Gott ist in Jesus Mensch geworden, weil er auf unersetzbaren Glauben aus ist. Er bringt eine Botschaft, die wir ohne ihn nicht hätten. Die Menschwerdung Gottes und ihre Notwendigkeit lassen sich anders nicht sinnvoll verstehen.

Jesu Botschaft ist auf Glauben aus, auf Glauben, der zwar nach der Sterbestunde in Sehen übergeht, bis dahin aber durch nichts zu ersetzen ist. Nicht also auf einen Glauben, an dessen Stelle historische Zeugen und Zeugnisse treten können. Wenn unser Text als Heilung im Sinn der Mediziner zu verstehen wäre, hätte es Zeugen gegeben, denen zu glauben erspart geblieben wäre. - Uns so etwas zu erzählen ... Wozu? Wir wüßten nicht warum! - Uns bliebe das Glauben so ja nicht erspart.

Blind im Sinn Jesu ist jeder, der erkennt, daß er mit allem irdischen Sehen und Wissen vor Gott im Dunkeln steht. Hörbereitschaft für das Evangelium setzt voraus, daß man sich zu diesem Unvermögen bekennt, daß man der Tatsache entsprechend zu leben versucht, grundsätzlich von einem anderen noch etwas hören zu können, das alle bisherigen Einsichten in Frage stellt. Nur ein Mensch mit diesem intakten dialogischen Selbstverständnis ist in der Lage, wirklich zu hören.

Die Blindenheilung, die wir hörten, ist eine Zeichengeschichte, d.h. sie hat keinen Selbstzweck, sondern soll etwas offenbaren: Sie soll Jesus Christus zeigen als das "Licht der Welt". - Jeder solcherart Blinde hört bei Jesus das einzige Wunder im Sinn der Kirche. Alle Menschen sind bedingungslos von Gott geliebt. Das Maß seiner Liebe nimmt Gott an sich selbst, nicht an uns, die wir wegen unseres Versagens sonst ab und an zu strafen wären.

Dieses Evangelium ist das Wunder. Nur der Geist dieser Worte läßt alles in ganz anderem Licht erscheinen. Nur diese Worte erfüllen die Bedingungen, unter denen im Sinn der Kirche etwas Wunder genannt wird: Sie sind keine Einbildung, die sich jemand macht wie einen Traum, sondern diese Worte ergehen öffentlich. - Sie sind durch Abläufe in der Natur weder zu begründen noch zu widerlegen. - Und drittens sind sie verständlich als Selbstoffenbarung Gottes, als mit Gott identisch.

Gottes immer geschenkte Gegenwart ist stärker als alle Welt, als alles in der Welt, das uns bedroht und Angst macht. - Grundproblem des menschlichen Lebens und Zusammenlebens ist, daß Menschen immer wieder unmenschlich werden. Dieses den Menschen bedrohende Böse hat die Struktur von Mord und seiner Verschleierung durch Lüge (vgl. Joh 8,44). Die Wurzel egoistischen und verantwortungslosen Verhaltens, in dem man letztlich "über Leichen zu gehen" bereit ist, ist diejenige Angst des Menschen um sich, die in seiner Verwundbarkeit und Vergänglichkeit, in seiner Todesverfallenheit (vgl. Hebr 2,15) begründet ist. - Diese Angst des Menschen um sich kann solange latent bleiben, als er sich nicht unmittelbar in dem bedroht fühlt, woraus er lebt. Sie gewinnt aber gerade dadurch Macht über ihn, daß er sich um jeden (!) Preis abzusichern sucht. Denn so gerät er in Rivalität mit anderen Menschen, gegen die er sich erst recht sichern muß.

Dies geschieht oft in "direkter" oder auch in "struktureller" Gewaltanwendung. Strukturelle Gewalt wird gewöhnlich mit dem Mittel aufrechterhalten, daß die Mächtigen andere Menschen zu Werkzeugen ihrer Unmenschlichkeit machen, indem sie sie bei ihrer Angst um sich packen. - Diktaturen sind Kettenreaktionen der Erpressung.

Aus der Gewalt aller gegen alle scheint es in ihrem eigenen Rahmen nur den Ausweg zu geben, daß sich die Aggressionen aller auf irgendein zufälliges Opfer entladen, dem man dann alle Schlechtigkeit zuschreibt: Der Sündenbock.

Die christliche Botschaft beansprucht demgegenüber, eine Gewißheit mitzuteilen, die stärker als alle Angst des Menschen um sich ist. Sie befreit also den Menschen zu wahrer Menschlichkeit.

Dafür beruft sich die christliche Botschaft darauf, "Wort Gottes" zu sein. "Wort Gottes" bedeutet nach der christlichen Botschaft das Angesprochenwerden des Menschen durch Gott in dem mitmenschlichen Wort der Weitergabe des Wortes Gottes unendlicher Liebe zum Glauben. Dieses Wort verkündet dem Menschen eine Leben und Sterben überdauernde Gemeinschaft mit Gott, und es will selbst bereits als die Verwirklichung dieser Gemeinschaft verstanden sein.

Wer im Vertrauen auf dieses Wort lebt, läßt sich in seinem Verhalten nicht mehr letztlich von der Angst um sich selber leiten. Er wird vielmehr mit allen seinen Möglichkeiten - aus dem Heil heraus - dem Wohl der Menschen zu dienen suchen.

Die Welt - für sich betrachtet, - macht Angst. Vier Grundformen der Angst gilt es zu unterscheiden, wenn wir beherzt und wirkungsvoll etwas unternehmen wollen.

In der Liebe Gottes zu Gott, des Vaters zum Sohn, sind wir unüberbietbar geborgen; wir können nicht verlorengehen.

Der Angst, uns selbst zu verlieren, brauchen wir nicht nachzugeben. Höflichkeit anderen gegenüber, Respekt und Diskretion: Ja. Übertrieben scheue Distanz zu Außenwelt und Mitmenschen: Nein. - Wenn Gott mir so vertraut, daß ich seine grenzenlose Barmherzigkeit schon annehmen werde, kann ich auch rückhaltlos mir selbst vertrauen. - Mein Selbstvertrauen vorausgesetzt, kann ich auch anderen Menschen vertrauen. - Alle Veränderungen auf unserer Erde geschehen in der Liebe Gottes zu Gott. Alle Reisen und Abschiede, je, selbst das Sterben führt nicht aus dem Heiligen Geist heraus.

Die Angst vor Veränderung statt Ich-Werdung in allem Wechsel ist unbegründet. Schutz vor Schaden durch Trennung, Ferne und Distanz bieten uns nicht größtmögliche Nähe und Abhängigkeit, sondern Gottes stets geschenkte Gegenwart. Unser eigenständiges Handeln birgt eben letztlich nicht die Gefahr von Liebesentzug in sich. Jede Flucht in Anpassung und Unterwerfung ist überflüssig.
"Die Art der Beleuchtung einer Sache ändert nichts an ihrem Wesen." (Stanislav Jerzy Lec, 1909 - 1966, polnischer Schriftsteller) Die Wahrheit ist die, daß sich die Welt ändert, daß sie vergänglich ist. - Das Evangelium ermöglicht es, sich dieser Tatsache zu stellen. Es ist eine Vergänglichkeit zum Leben, wenn sie noch so ausschaut wie eine Vergänglichkeit zum Tod. Sterben: Ja; aber Tod im Sinn von absolutem Ende: Nein. Der Tod ist tot. Die Angst vor Vergänglichkeit richtet nichts aus. Unsere Spontaneität können wir uns auch angesichts der Vergänglichkeit der Welt bewahren. Neuen Erfahrungen können wir uns aufgeschlossen stellen. Alles Basteln an der Illusion der Beständigkeit entlarven wir als verlogen. Wir brauchen nicht alles beim alten zu belassen, wir prüfen alles und bewahren das Gute.

Bei Karl Marx ist Einsicht in die Notwendigkeit schon als Freiheit definiert. Bei Christen ist darüber hinaus auch die Möglichkeit bekannt, der Notwendigkeit zu entsprechen. Nichts kann uns trennen von der Liebe Gottes, auch kein Mißerfolg, kein mißglückter Versuch, der Notwendigkeit zu entsprechen. Hic Rhodos, hic salta: Christen verabschieden sich von der Angst vor der Notwendigkeit. Eine Flucht in ständig neue Reize, die nur ablenken soll von dem, was eigentlich hier und jetzt zu tun ist, wird unterlassen. Beständigkeit ist ermöglicht. Ausweichen in ständig neue Konfrontation mit ständig neuen Menschen, Berufen, Orten statt der Beschäftigung mit demselben Gegenstand bis zur Erledigung der Aufgabe ist weder angesagt noch angeraten. Die Perversion der Angst vor dem Neuen in die Sucht nach dem Neuen ist wirklich absolut vermeidbar. - Sie machte auch nur Sehende blind.

Die Einleitung für die nächste Predigt mit dem Blindgeborenen in drei Jahren ist schon fertig: Bis ins vorige Jahrhundert soll es üblich gewesen sein und als höflich gegolten haben, daß Untergebene im ehrfürchtigen Gespräch mit ihren Oberen die Brille abnahmen. - Nichts kann uns trennen von der Liebe Gottes (Vgl. Röm 8, 39).


Amen Das Weitere findet sich!